Anselm von Canterbury – Liebe

O lieber Herr Christus, verleihe mir Deine heilige und reine Liebe, daß sie mich ganz erfülle und beseele. Gieb mir aber auch das offenkundige Zeichen derselben, einen reichlichen Thränenquell, daß auch die Thränen es verrathen und aussprechen mögen, wie sehr ich Dich liebe. Ich erinnere mich der Hanna, jenes frommen Weibes, die zur Stiftshütte kam, um einen Sohn zu erbitten, von der die Schrift erzählt, daß sie geweint und gebetet habe. Aber eingedenk ihrer Inständigkeit werde ich tief beschämt, da ich sehe, daß ich Elender noch so gar darniederliege. Denn wenn sie im Gebete um den Sohn also weinte und weinend beharrte, wie müßte doch meine Seele klagen und klagend beharren, die Dich, o Herr, liebt und sich Dir zu nahen begehrt! Es kommt mir auch die wunderbare Frömmigkeit einer andern Frau ins Gedächtniß, die Dich, da Du im Grabe lagest, aus Liebe aufsuchte, die nicht zurückwich, als selbst die Jünger wichen. Trauernd und klagend saß sie vielmehr da, und weinte lange und viel, und wie sie aufstand, blickte sie, reichliche Thränen vergießend, immer wieder und wieder in die leere Gruft hinein, ob sie Dich etwa gewahren mochte. Und weil sie Dich vor Allen liebte, vor Liebe Thränen vergoß, unter Thränen Dich suchte und suchend beharrte, ward sie gewürdigt, Dich zuerst zu finden, zu sehen und mit Dir zu reden. Und nicht allein dieß, sie sollte auch Deinen Jüngern die erste Botschaft Deiner glorreichen Auferstehung bringen, indem Du ihr auftrugest: Gehe hin und sage meinen Brüdern, daß sie nach Galiläa gehen, daselbst werden sie mich finden. O lieber Herr, wie sie weinte, laß auch mich weinen, laß Thränen mein Brod Tag und Nacht werden, bis ich zu Dir komme und Dein heiliges Antlitz schaue.