Thomas von Kempen – Ein Gebet des Demüthigen, aus tiefem Gefühle des eigenen Unwerthes

Mein Herr, was ist der Mensch, daß Du sein gedenkst, oder ein Menschensohn, daß Du ihn heimsuchest? Wie hätte der Mensch je verdienen können, daß Du ihm Deine Huld angedeihen ließest? Wie könnt‘ ich klagen, wenn Du mir Deine Huld entzögest? Was dürfte ich mit Grunde dagegen einwenden, wenn Du meine Bitten nicht erhörtest? Wahrhaftig, dies Eine kann und darf ich mit aller Wahrheit denken und sagen: Aus mir allein und ohne Dich, bin ich nichts, und vermag ich nichts und habe nichts Gutes an mir; aus mir allein, und ohne Dich bin ich brechlich und ohnmächtig zum Guten, und strebe immer nach dem, was nichts ist: und, wenn Deine Macht mich nicht unterstützet, Dein Licht mich nicht im Innern erleuchtet, so werde ich noch ganz lau und zuchtlos. Dank Dir für alles Gute, das ich zu Stande bringe, denn alles Gute kommet von Dir! Ich bin aus mir und vor Dir – eitel Nichts, ein Mensch unstät und schwach. Was habe ich nun für Grund und Recht, von mir selbst groß zu sprechen, oder andere von mir große sprechen zu lassen? Vielleicht – weil ich aus mir, Nichts bin? Ein Ruhm – auf Nichts gebaut – wäre doch unter allem, was eitel ist, das Eitelste. O, die eitele Ehre, sie ist wahrhaftig, die erste Eitelkeit, und eine Seelenpest, die alles Gute tödtet; denn sie entblößt uns von der Gnade des Himmels, und raubt uns das Kleinod der wahren, innern Herrlichkeit. Denn, sobald der Mensch an sich selbst sein Wohlgefallen findet, hast Du Mißfallen an ihm. Und, wenn er dem Lobe der Menschen nacheilet, so verliert er darüber den wahren Werth, den ihm nur die wahre Tugend verschaffen kann.