Anselm von Canterbury – 1

Heilige Dreieinigkeit, einiger allmächtiger Gott, Vater, Sohn und heiliger Geist, der du nicht willst den Tod des Sünders, sondern daß er sich bekehre, eile mir zu helfen, denn ich bin einsam und elend; ich bin ein armer verdammungswerther Sünder, verstoße mich nicht aus deiner Liebe. Siehe nicht an meine Missethat und Unreinigkeit und meine schändlichen Gedanken, die mich zu meinem Schmerze scheiden von dir und deinem heiligen Willen, sondern gieße aus über mich reichlich dein freundliches Erbarmen. Laß meine Feinde sich nicht freuen über meine Verdammniß in der Hölle, da Niemand deiner gedenket, sondern erbarme dich meiner, denn die Last meiner Sünden ist mir zu schwer geworden, ich bin befleckt und besudelt mit allerlei Unsauberkeit. Ach ich bitte dich, verleihe mir deine Gnade, denn meine Seele ist voll Jammers; behüte mich vor allem Uebel, vor früherem, gegenwärtigem und zukünftigem, vor einem bösen schnellen, und vor dem ewigen Tode, vor aller Pestilenz und Seuche, vor aller Versuchung und Gefahr, vor boshaftigem Sinne, vor verkehrtem Thun, vor aller Sünde. Tilge alle meine Uebertretungen und Missethaten, meine Begehungs- und Unterlassungssünden. Erweise mir gnädige Hülfe in aller Angst und Trübsal, Noth und Heimsuchung, in aller Gefahr und Schwachheit.

Heilige, untheilbare Dreieinigkeit, deren Güte kein Ende hat, erhöre mein Flehen. Wie du ohne alle mein Verdienst, einzig und allein aus freiwilliger Gnade an deinen Sakramenten mich Theil haben ließest, so laß mich auch bis zu jenem Stündlein, da ich von hinnen scheiden muß, im Glauben, in der Hoffnung und in der Liebe beharren, schütze und schirme mich vor allem Uebel, verleihe. Alles, was mir heilsam ist, errette mich von der ewigen Pein, bringe mich hinan in die ewige Freude, und die todbringende Versuchung des Teufels, die um meiner Sünden willen über mich gar leicht Gewalt gewinnen könnte, laß, Allbarmherziger, nach deiner Güte von nun an von mir weichen. Dreieiniger, einiger Gott, nimm gnädig an die Bitte deines armen Knechtes. Schenke mir, o Herr, Eifer, daß ich dich suche, Weisheit, daß ich dich finde, ein Herz, das dich erkennt, Augen, die dich sehen, einen Wandel, der dir wohlgefällt, das Beharren bis ans Ende, ein seliges Abscheiden, den ewigen Lohn. Erhöre mein Gebet, wie du Jonas erhöret hat im Bauche des Fisches; errette mich, der du Susanna errettet hat von falscher Beschuldigung. Erhöre mich, wie du den Petrus erhöretest auf dem Meere, den Paulus im Kerker. Ach, Herr, hilf mir, errette mich für und für von allem Uebel, reiße mich aus dem Rachen des Satans, schirme mich vor dem ewigen Tode, erfülle mich mit der Fülle deiner Gnade; wappne meine Brust mit deiner Kraft, läutere meine Seele, heilige mein Leben, reinige meine Sitten, erleuchte mein Herz mit himmlischer Weisheit, dämpfe die Gluth der Fleischeslust, lösche aus den Zorn, bändige meine Zunge, daß sie nichts Eitles rede, laß aus meinem Munde gehen. Worte der Wahrheit und des Erbarmens, der Freundlichkeit und des Friedens. Richte mein sittliches Streben nach allen Seiten auf das Vollkommene hin; und daß ich durch wilde Leidenschaftlichkeit mich nicht verschulden möge, so stärke mich, Allgütiger, zu allem guten Werke. Vor dir, o Herr, breite ich aus alle Falten meines Herzens, dir bekenne ich alle meine Sünde, dir enthülle ich das tiefe Verderben meiner Seele, dir entdecke ich alle Unsauberkeit meines befleckten Wandels. Habe ich doch ärger gesündigt, als Sodom, schwerer gefehlt, als Gomorrha. Von wegen meiner Missethaten bin ich nicht nur zehntausend Pfund dir schuldig, es ist mein ganzes Leben vor dir eitel Schuld. Bin ich doch durch meine Lässigkeit vor allen Andern ein Verächter deines Gesetzes geworden, durch meinen Ungehorsam ein Uebertreter deiner Gebote in meinem ganzen Leben. Darum komme ich nun vor dein Antlitz mit meinem Bekenntniß, und flehe zu dir in allergrößter Herzensangst und unter Seufzern und Thränen der Buße, du wollest mich erhören zu dieser angenehmen Zeit, und in diesen Tagen des Heils mir helfen. Ordne all mein Thun und Laffen nach deinem Wohlgefallen, auf daß ich von Tage zu Tage wachsen und zunehmen möge an Tugend um Tugend. Meine demüthigen Bitten, die Seufzer meines Herzens schütte ich aus vor dir, o Herr. Weil ich denn mit offenem Bekenntniß vor dich trete, wollest du meiner schonen; laß mich in diesem sterblichen Leibe meine Sünden also beweinen, daß ich am Tage des Gerichtes dem Urtheil der Verdammniß entrinnen möge. Du ewiges Licht, thue ab von meinen Augen alle menschliche Blindheit, bewahre mich, daß ich dein sei und bleibe. Behüte mein Herz, daß es von allerlei Weltgut und weltlichem Verlangen sich nicht beschweren lasse. Eben so, wie du mich wieder in den Stand der Unschuld gesetzt, eben so verleihe mir, daß ich zunehme an allerlei Tugend. Gib, daß ich den alten Menschen mit seinen Werken ausziehe, und anziehe den neuen in Gerechtigkeit und Heiligkeit. Unter dem hülfreichen Beistande deiner Gnaden laß mich für und für in deiner Liebe bleiben, den himmlischen Segen empfangen, und im gegenwärtigen und zukünftigen Leben unter deinem Schutz und Schirme fröhlich wohnen. Amen. Mein gnädiger Gott und Erbarmer, noch einmal wendet sich mein Gebet an deine unermeßliche Barmherzigkeit. Ich bitte dich, vergib mir alles Aergerniß, das meine freche Lüsternheit angerichtet hat, auf daß meine Seele von der Süßigkeit deiner Liebe erfüllt werde. Begnade mich mit voller Vergebung; alle Schuld, damit ich mich befleckt, wollest du nach deiner unsäglichen Güte austilgen und abwaschen. Laß dein freundliches Erbarmen nie fern von mir sein, sondern Alles, was ich gegen deinen Willen gefehlt habe, verführt durch List und Trug des Teufels und meine eigne Sündigkeit und Schwachheit, das wollest du in Gnaden mir nachsehen. Heile meine Wunden, erlasse mir alle meine Sünden, auf daß mich keine meiner Missethaten von dir trenne, daß ich vielmehr, von deiner Hülfe und deinem Beistande zu allen Zeiten und an allen Orten treu unter stützt, dir, o Herr, für immer anhangen und dereinst der ewigen Herrlichkeit theilhaftig werden möge, die kein Auge gesehen, kein Ohr gehört, und die in keines Menschen Herz gekommen, du aber hat sie bereitet denen, die dich lieben. Amen. Der du bist. Drei in Einigkeit, ein wahrer Gott von Ewigkeit, laß leuchten uns dein selig Licht, mehre in uns den Glauben, mehre die Hoffnung, mehre die Liebe, errette, erlöse, rechtfertige uns. Du selige Dreieinigkeit, erlaß alle Schuld, vergib alle Sünde, treibe fort alles Elend, rücke fern alle Noth, verscheuche alle Trübsal, räume weg alle Widerwärtigkeit, gib uns reichlich, was wir bitten, und erhöre uns gnädig, auf der wir, erlöset von allem Uebel, das uns betroffen, allezeit fröhlich seien über deinem Gericht. Komm hernieder, du gütiger Herr, tritt in unsere Mitte, laß dich in unseren Herzen fühlen und finden. Nimm freundlich das Bekenntniß unserer Lippen; laß uns grünen und blühen, laß uns, von deinen Gnadenströmen beflossen, dir in Fülle liebliche Früchte bringen zu deinem Wohlgefallen; laß uns vom Strahle deiner Liebe entzündet, vom Feuer wahrhaftiger Gegenliebe durchglüht werden. Und wie du deinen Knecht Moses mit wundersamem Lichtglanze erleuchtetest, so durchleuchte unsere Herzen und Sinne mit deinem Lichte, auf daß wir, gereinigt von aller Befleckung der Sünde, vereinet werden mit dir, der du das ewige Leben bist.

Freuden gib zur Labe,
Gnaden gib zur Gabe,
allem Streit mach Ende,
falschen Frieden ende.
Mache licht die Herzen,
frei den Geist von Schmerzen,
brich der Sünden Bande,
tilge Schuld und Schande.

An dir, Herr, haben wir gesündigt, du aber habe Geduld mit uns und erlöse uns von aller Sünde, die täglich größere Gewalt über uns gewinnt. Unserer Missethat, o Herr, ist so viel, daß sie uns über das Haupt geht, unsere Uebertretungen sind bis zum Himmel hinangewachsen. Verschone uns, Herr, und neige dich erbarmend zu uns nieder. O Herr, wir sind zu Boden geworfen um unserer Sünden willen, aber wir werden zu Gnaden angenommen um unseres zerbrochenen Herzens und gedemüthigten Geistes willen. Handle, Herr, mit uns nach deiner freundlichen Milde, denn es werden nicht zu Schanden, die auf dich trauen. Es ist kein anderer Gott, denn du, Herr, allein; du bist der Herr über uns Alle, und trägt treulich Sorge für uns Alle. Sei gnädig deinem Volke, gib uns reichlich, was wir von dir bitten, auf daß wir uns von der Bosheit wenden und einen guten Wandel führen. Erhöre, Herr, das Flehen deiner Knechte, und erbarme dich deines Volkes, auf daß alle Heiden es sehen, und erkennen, daß du Gott bist in Ewigkeit. Herr, unser Gott, erbarme dich der Bürger deines Reiches, die du geheiligt hat. Erbarme dich, Herr, über das Volk, das nach deinem heiligen Namen genannt ist, auf daß alle, so auf Erden wohnen, erkennen, daß du, Gott, Schutz und Schirm bist um dein Volk her. Vergib, o Herr, deinem Volke seine Sünde um deiner großen Barmherzigkeit willen. Wie du unsern Vätern gnädig gewesen bist, so sei auch uns gnädig, auf daß deines Ruhmes immer mehr werde auf dem ganzen Erdboden. Erhöre, Herr, unser Gebet, und sei deinem Volke gnädig, verkehre unsere Trübsal in Freude, auf daß wir leben, und dir, Herr, Dank sagen. Wir flehen dich an, du allbarmherziger Herr, daß du abthun wollest von deiner Bürgerschaft in deinem heiligen Hause deinen Grimm und Zorn, darum, daß wir gesündigt haben. Neige, Herr, deine Ohren zu uns und höre; schaue vom Himmel, und siehe den Jammer deines Volkes. Erhöre uns, Herr; Herr, sei uns gnädig; wende dich zu uns, und verziehe nicht, weil wir nach deinem heiligen Namen genannt sind. Ach, Herr, wie sind unserer Sünden so viel; an dir allein haben wir gesündigt; habe Geduld mit deinem Israel; errette uns, Herr, in der Zeit der Angst. Wir haben gesündigt, Herr, und du bist zornig über uns, und Niemand mag deiner Hand entrinnen, aber wir bitten dich demüthiglich, laß dein Erbarmen über uns kommen. Du hast Ninive verschont, habe Mitleid auch mit uns. Gedenke an deine Barmherzigkeit, o Herr, du hast uns bis hierher getragen, erwecke uns nun zu rechtschaffener Buße. Sei gnädig, Herr, deinem ganzen Christenvolke. Hilf denen, die eine gute Stufe erreicht haben, daß sie für und für im Guten beharren. Erbarme dich der weniger Geförderten, daß sie immer besser werden. Denen, so Böses thun und irre gehen, stehe bei, daß sie sich bald bekehren. Sei gnädig, Herr, auch den Ungläubigen und Falschgläubigen, den Juden und Heiden, daß sie sich von ihren bösen Wegen wenden, und dich erkennen, den lebendigen, wahrhaftigen Gott, der du den Himmel gemacht hat, und die Erde, das Meer, und Alles, was darinnen ist.

Ach, Herr, gedenke an uns, die wir beschweret sind vom Leibe dieses Todes; in Liebe hast du lange uns geduldet, gib nun, daß deine Güte uns zur Buße leite. Erbarme dich unser, du Gott unser Aller, siehe uns in Gnaden an, laß uns leuchten das Licht deiner Erbarmungen. Wir sind arme Sünder, aber Werke deiner Hände, und du hast uns deinem Sohn zum Erbe gegeben. Schließe deine Ohren nicht zu vor unseren Bitten, sondern stille nach deiner milden Güte den Jammer deines Volkes, eingedenk deiner Verheißung, da du spricht: „Kehret euch zu mir, so will ich mich zu euch kehren.“ Zach. 1, 3. Gedenke unser, o Herr, gedenke, unser im Besten, auf daß wir Erben werden in deinem Reiche, und im Anschauen deiner Herrlichkeit unsere Kniee beugen vor deiner trefflichen Güte, und wenn wir deine alles Denken übersteigende Schönheit erblicken, einmüthig rufen: Ehre sei dem Vater, der uns gemacht hat; Ehre sei dem Sohne, der uns erlöset hat; Ehre sei dem heiligen Geiste, der uns von neuem geboren hat, von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.

Anselm von Canterbury – Flucht zu Gott

O meine Seele, auf finsterem, schlüpfrigem Wege glittest du immerdar zur Wüste der Hölle hinab. Ein Bleigewicht hing an deinem Halse, eine unerträgliche Last drückte dich und unsichtbare Feinde stürmten mit aller Macht auf dich ein. Ganz von Hülfe verlassen sankest du, und merktest doch nichts, weil du also empfangen und geboren warest. Erschrecke bei dem Gedanken, erbebe bei der Erinnerung! O lieber Herr Jesus Christus, in solcher Lage bist Du mir ohne mein Bitten und Meinen als leuchtende Sonne aufgegangen. Du hast das Blei hinweggenommen und die Last entfernt, die auf mir lag. Du hast Dich für mich in den Kampf gestellt und meine Feinde in die Flucht geschlagen. Mit einem neuen Namen, mit Deinem Namen hast Du mich genannt, und da ich krumm und gebückt vor Dir stand, erhobest Du mich und sprachest: Sei getrost, ich habe dich erlöst, ich habe mein Leben für dich gelassen, ich nehme dich in mein Reich auf, ich mache dich zum Erben Gottes, zu meinem Miterben. Siehe, Herr, so tief war ich gesunken, so hoch hast Du mich erhoben! Nimm mich nun ganz in Deine Liebesarme auf.

Anselm von Canterbury

Gott der Götter, ich weiß, daß Du offenbar werden, ich weiß, daß Du nicht immer schweigen wirst: wann vor Deinem Antlitz Feuer entbrennen und um Dich her ein großes Ungewitter sich erheben wird, wann Du aufrufen wirst Himmel und Erde, um Dein Volk zu richten. Und siehe, vor so vielen tausend Völkern werden alle meine Missethaten aufgedeckt, vor so vielen Schaaren von Engeln meine ganzen Sünden bekannt werden, die ich nicht allein in Werken, sondern auch in Gedanken und Worten begangen habe! Wer soll da anders Fürsprache für mich thun, als der, welcher zu Deiner Rechten sitzt und mich vertritt? Er ist mein Beistand vor Dir, Gott Vater. Siehe, Er ist der Hohepriester, der nicht mit fremdem Blute versöhnt zu werden braucht, weil er prangt mit eigenem Blute bespritzt. Siehe, Er ist das heilige, wohlgefällige und vollkommene Opfer, das zu einem süßen Geruche dargebracht und angenommen worden ist. Er ist das fleckenlose Lamm, das vor seinen Scheerern verstummte; das mit Schlägen gemißhandelt, mit Speichel besudelt, mit Schmähungen überhäuft, seinen Mund nicht aufthat.

Anselm von Canterbury – Trost

O Herr, ich erkenne, daß dein Verbergen meine Vollendung wirken soll. Du verdeckst mir deine Schätze, damit ich mit mehr Inbrunst danach trachte. Du verbirgst die Perle, damit ich sie mit größerem Verlangen suche. Du verziehest mir zu helfen, damit ich lerne zu dir zu schreien. Du scheinst dein Ohr zu verschließen, damit ich lerne ausharren.

Anselm von Canterbury

Wehe mir, o Herr! wehe meiner Seele! Du mein Tröster bist geschieden und hast nicht Lebewohl gesagt. Da Du Deinen Weg antratest, segnetest Du die Deinen, aber ich bin nicht dabei gewesen. Die Hände ausbreitend, wurdest Du von der Wolke in den Himmel aufgenommen, aber ich habe es nicht gesehen. Die Engel kündigten Deine Wiederkunft an, aber ich habe es nicht gehört. Was soll ich sagen? Was soll ich thun? Wo soll ich hingehen? Wo soll ich ihn suchen? Wann werde ich ihn finden? Wer wird dem Geliebten sagen, wie sehr ich vor Liebe nach ihm schmachte? Verschwunden ist die Freude meines Herzens, verwandelt in Trauer meine Fröhlichkeit. Meine Seele will sich durch Nichts trösten lassen, als von Dir, o Herr, meine Wonne. Was giebt es für mich im Himmel und auf Erden außer Dir? Dich will ich, auf Dich hoffe ich, Dich suche ich, zu Dir hat mein Herz gesprochen: Mein Antlitz hat Dich gesucht, Dein Antlitz will ich suchen. O gütigster Freund der Menschen, Dir ist der Arme überlassen, Du wirst dem Verwaisten ein Helfer sein. Blicke herab auf die Thränen meiner Verlassenheit, die ich Dir darbringe, bis Du wiederkehrest. O mein Herr, erscheine mir, und ich werde getröstet sein, zeige Deine Gegenwart, und meine Sehnsucht wird gestillt sein, enthülle Deine Herrlichkeit, und meine Freude wird vollkommen sein. Es dürstet nach Dir meine Seele und mein Fleisch. Es dürstet meine Seele nach Gott, der lebendigen Quelle; wann werde ich kommen und vor dem Angesichte des Herrn erscheinen? Wann wirst Du kommen, mein Tröster? O wenn ich meine Freude sehen werde, nach der mich verlangt! O wenn ich werde satt werden, wenn mein Heil erscheint, nach dem ich hungere! O wenn ich werde berauscht werden von der Fülle des Hauses, wonach ich dürste! Thränen sollen, o Herr, mein Brod Tag und Nacht sein, bis zu mir gesprochen wird: Siehe, dein Gott! bis meine Seele hort: Siehe, dein Bräutigam! O er wird vielleicht bald kommen, mein Erlöser, weil er gütig ist, er wird nicht zögern, weil er gnädig ist. Ihm sei Preis von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen! —- Denke dir, du sähest ein tiefes, dunkles Thal, das allen Jammer in sich faßte. Darüber führte eine lange, blos einen Fuß breite Brücke. Müßte nun jemand über diese schmale, hohe und gefährliche Brücke gehen, dem die Augen verschlossen, daß er seine Tritte nicht zu sehen vermöchte, dem die Hände gebunden wären, daß er keinen Stab zum Fühlen gebrauchen könnte, würde der wohl noch lachen und scherzen? Würde der nicht vielmehr vor Furcht und Schrecken erzittern und erbeben? Denke dir, daß noch Ungestalten von Raubvögeln um die Brücke herumschwärmten, geschäftig, den Wanderer in die Tiefe hinabzureißen; denke dir endlich, daß bei jedem seiner Schritte die einzelnen Bretter sofort hinter ihm weggezogen würden! Und nun höre, was das Gleichniß sagen will. Unter dem tiefen und dunkeln Thal ist die Hölle zu verstehen. Alles, was schmeichelt, findet man nicht da, und alles, was schreckt, peinigt, ängstet, findet man da. Die gefahrvolle Brücke ist das gegenwärtige Leben; wer es übel benutzt, sinkt zur Hölle hinab. Die Bretter, welche hinter dem Wanderer weggezogen werden, sind die nie wiederkehrenden Tage seines Lebens, deren beständige Abnahme ihn immer mit Eil zum Ende hindrängt. Der Vogelschwarm ist die Schaar böser Geister. Wir selbst sind die Wanderer, blind von Thorheit und mit Untüchtigkeit zur Tugend wie mit einer schweren Kette gebunden. Nun bedenke, ob wir nicht in solcher Gefahr zum Schöpfer um Hilfe schreien müssen.

Anselm von Canterbury – Liebe zu Gott

Herr, mein Gott, gieb, daß mein Herz sich nach Dir sehne, mit Sehnsucht Dich suche, beim Suchen Dich finde, und Dich liebe, wenn es gefunden; verleihe meinem Herzen Buße, zerknirsche meinen Geist, laß Thränen aus meinen Augen quellen und mache meine Hände bereit, wohlzuthun. Mein König, vertilge in mir des Fleisches Lüste, und entzünde das Feuer Deiner Liebe. Mein Erlöser, nimm von mir den stolzen Sinn, und verleihe gnädiglich den Schatz Deiner Demuth. Mein Heiland, laß von mir weichen den ungestümen Zorn, und reiche mir erbarmungsvoll den Schild Deiner Geduld. Mein Schöpfer, rotte aus in mir alle Bitterkeit des Herzens, und schenke mir einen liebreichen, sanften Sinn. Gieb mir, gnädigster Vater, festen Glauben, rechte Hoffnung, dauernde Liebe.

Anselm von Canterbury – Sehnsucht

O Herr, nach Dir dürste ich, nach Dir verlangt mich; und gleichwie ein verwaistes Kindlein, dem der theuere Vater genommen ist, das liebe Bild desselben weinend und seufzend beständig im Herzen behält, so beweine auch ich, nicht zwar so sehr ich sollte, doch so viel ich vermag, die Kümmernisse meines Pilgerlebens, hoffe allein auf den Trost Deiner Zukunft und sehne mich innig, Dein glorreiches Antlitz zu schauen. Ach, daß ich ihn nicht habe sehen können, den Herrn der Engel, da er sich Hände und Füße um meinetwillen durchbohren ließ, daß ich seine wunderbare und unaussprechliche Liebe nicht habe bewundernd erblicken können! O Maria, welcher Thränenstrom mag aus deinen züchtigen Augen geflossen sein, als du gewahren mußtest, wie dein Sohn unschuldig gebunden und gegeißelt ward! Wie mag dein frommes Antlitz geweint haben, als eben dieser dein Sohn, dein Gott und Herr, ohne Schuld ans Kreuz geheftet und das Fleisch von deinem Fleisch grausam zerrissen ward! Welche Seufzer mögen deinem Herzen entquollen sein, als du hören mußtest: Weib, siehe, das ist dein Sohn! und der Jünger: Siehe, das ist deine Mutter! Wäre ich doch so glücklich gewesen, und hätte mit Joseph meinen Herrn vom Kreuze abgenommen, ihn mit Specereien gesalbt und ins Grab gelegt, um dem hohen Leichnam noch einen Dienst zu erzeigen. Wäre ich doch nachmals unter den heiligen Frauen gestanden, wäre mit ihnen erschrocken bei der lichtvollen Erscheinung der Engel und hätte ich mit gehört die Botschaft des Trostes, die so gehoffte, so ersehnte Botschaft! Hätte ich doch aus dem Munde des Engels vernommen das Wort: Fürchtet euch nicht, ihr suchet Jesum von Nazareth, den Gekreuzigten, er ist auferstanden und nicht hier! O wunderbarer Herr, wann wirst du mich trösten und meinen Schmerz lindern? Denn mein Schmerz verläßt mich nicht, so lange ich in der Fremde walle, fern von Dir, meinem Herrn.

Anselm von Canterbury – Liebe

O lieber Herr Christus, verleihe mir Deine heilige und reine Liebe, daß sie mich ganz erfülle und beseele. Gieb mir aber auch das offenkundige Zeichen derselben, einen reichlichen Thränenquell, daß auch die Thränen es verrathen und aussprechen mögen, wie sehr ich Dich liebe. Ich erinnere mich der Hanna, jenes frommen Weibes, die zur Stiftshütte kam, um einen Sohn zu erbitten, von der die Schrift erzählt, daß sie geweint und gebetet habe. Aber eingedenk ihrer Inständigkeit werde ich tief beschämt, da ich sehe, daß ich Elender noch so gar darniederliege. Denn wenn sie im Gebete um den Sohn also weinte und weinend beharrte, wie müßte doch meine Seele klagen und klagend beharren, die Dich, o Herr, liebt und sich Dir zu nahen begehrt! Es kommt mir auch die wunderbare Frömmigkeit einer andern Frau ins Gedächtniß, die Dich, da Du im Grabe lagest, aus Liebe aufsuchte, die nicht zurückwich, als selbst die Jünger wichen. Trauernd und klagend saß sie vielmehr da, und weinte lange und viel, und wie sie aufstand, blickte sie, reichliche Thränen vergießend, immer wieder und wieder in die leere Gruft hinein, ob sie Dich etwa gewahren mochte. Und weil sie Dich vor Allen liebte, vor Liebe Thränen vergoß, unter Thränen Dich suchte und suchend beharrte, ward sie gewürdigt, Dich zuerst zu finden, zu sehen und mit Dir zu reden. Und nicht allein dieß, sie sollte auch Deinen Jüngern die erste Botschaft Deiner glorreichen Auferstehung bringen, indem Du ihr auftrugest: Gehe hin und sage meinen Brüdern, daß sie nach Galiläa gehen, daselbst werden sie mich finden. O lieber Herr, wie sie weinte, laß auch mich weinen, laß Thränen mein Brod Tag und Nacht werden, bis ich zu Dir komme und Dein heiliges Antlitz schaue.

Anselm von Canterbury – Liebe zu Jesus

Jesu, mein Erlöser, wer kann Dich würdig preisen, Du unaussprechliche Macht und Weisheit des Vaters? O wie gern möchte ich ganz in Deinem Lobe aufgehen! Aber, weil ich Solches nicht kann, soll ich darum schweigen? Wehe denen, die von Dir schweigen, der Du den Mund der Stummen öffnest und Kinderzungen beredt machst! Wehe denen, die von Dir schweigen; denn bei all ihrem Geschwätz sind sie stumm, wenn sie Dein Lob nicht verkündigen! Unendlich bist Du, o Herr, und unendliche Liebe sind wir Dir schuldig, die Du durch Dein theures Blut erkauft hast. Denn wenn ein Mensch den andern also liebt, daß er kaum ohne ihn sein kann, wenn die Braut dem Bräutigam so innig zugethan ist, daß sie „immer Ruhe hat, wenn ihr Freund nicht bei ihr ist; mit welcher Liebe, mit welcher Inbrunst muß Dich die Dir im Glauben vertraute Seele lieben, ihren wahren Gott und Bräutigam, der Du so Vieles und so Großes für uns gethan hast! Und überdieß ist Deine Liebe so süß und so ruhevoll. Auch die Welt hat zwar ihre Lust und Ergötzlichkeiten, aber die Seelen, welche sich ihr hingeben, können nicht still sein; von Argwohn, Unruhe und mannigfachen Befürchtungen werden sie besessen. Bei dir hingegen ist ein ungestörtes Leben. Wer zu Dir kommt, lieber Herr, der geht ein zur Freude seines Herrn, der kann sprechen: Der Herr ist mein Hirt, mir wird Nichts mangeln; er weidet mich auf einer grünen Aue.

Anselm von Canterbury – Kreuzigung

Siehe an, lieber Vater, wie Dein theurer Sohn am Kreuze hängt, das Haupt niedergesenkt zum Tode. Bleich ist die nackte Brust, roth von Blut die Seite, ausgespannt und verdorrt der Leib, erloschen sind die himmlischen Augen, Blässe deckt das königliche Antlitz, erstarrt sind die erhabenen Arme, marmorgleich hängen die Schenkel herab, ein Strom heiligen Blutes rinnt aus den durchstochenen Füßen, die nicht auf den Weg der Sünder traten, sondern allezeit wandelten in Deinem Gesetze. Schaue nun an, o Vater der Herrlichkeit, das Leiden des Gottmenschen und lindere das Elend der geschaffenen Menschheit; schaue an die Strafen des Erlösers und vergieb die Schuld den Erlösten.