Heinrich von Suso – Morgengebet

O mein gnädiger Herr, ich bin mit herzlichem Geiste zu Dir erwacht und bitte Dich, daß Deine treue Gegenwart von mir alles Nebel an Leib und Seele vertreiben, und daß sie die trüben Winkel meines Herzens mit Deiner Gnade erfüllen und mit Deiner göttlichen Liebe entzünden möge. Ach, allerliebster Jesu Christe, kehre Dein Antlitz freundlich her zu mir, so kehrt sich auch meine Seele an diesem Morgen mit allen ihren Kräften hin zu Dir. Lieber Herr und himmlischer Vater, ich bitte Dich durch Deinen eingebornen Sohn, daß Du der heiligen Christenheit in allen Leiden und aller Widerwärtigkeit zu Hülfe kommen und ihr vollen Frieden geben mögest. Amen!

Heinrich von Suso – Umkehr zu Gott

O Herr, da ich nicht war, gabest Du mir Wesen, da ich mich von Dir geschieden hatte, da wolltest Du nicht von mir scheiden, da ich Dir entrinnen wollte, da hieltest Du mich so süßiglich gefangen. O ewige Weisheit, möchte Dich mein Herz umfassen und mit steter Liebe und ganzem Lobe alle meine Tage mit Dir verleben; das wäre meines Herzens Begierde. Denn wahrlich, der Mensch ist selig, dem Du so liebevoll zuvorkommst, daß Du ihn nirgend recht ruhen lässest, bis daß er seine Ruhe in Dir allein suche. Ach, da ich nun an Dir gefunden habe, den meine Seele liebt, so verschmähe nicht Deine arme Kreatur. Siehe an, wie mein Herz verstummt ist gegen alle Welt in Lieb und Leid, soll es auch gegen Dich immer stumm sein? Vergönne, lieber Herr, meiner elenden Seele, ein Wort zu Dir zu sprechen; denn sie hat in dieser weiten Welt Niemand, an dem sie sich erquicken könnte, als Dich, auserwählter Herr, Vater und Bruder.

Heinrich von Suso – Sehnsucht nach Gott

Herr, mein Herz schließt sich auf, Dich zu empfangen, wie die zarte Rose vor dem klaren Sonnenlicht; meine Seele streckt weit ihre Arme aus zu Dir in grundloser Begierde. O lieber Herr, ich umfasse Dich heute mit Dank und Lob, bitte Dich, Du wollest die Stunde Deines Sterbens an mir nicht lassen verloren werden, und begehre, daß weder Leben noch Tod, weder Lieb noch Leid Dich von mir scheide. Meine Augen schauen hinein in Dein verblichenes Antlitz, meine Seele erfrischt sich an Deinen blutigen Wunden, alle meine Sinne werden gespeiset von dieser süßen Frucht unter diesem lebendigen Baume des Kreuzes. Da tröstet sich wohl einer seines unschuldigen Lebens, der andere seiner Uebungen und Strenge, der eine durch dieß, der andere durch jenes, aber all mein Trost und meine Zuversicht liegt ganz in Deinem Leiden, in Deiner Genugthuung und Deinem Verdienste. O wonniger Glanz des ewigen Lichtes, lösche ans in mir alle unlautere Lust! O klarer Spiegel der göttlichen Majestät, reinige die großen Flecken meiner Missethat! O schönes Bild der väterlichen Güte, stelle das verblichene Bild meiner Seele wieder her! O unschuldiges Lamm, büße für mein schuldiges Leben! O du König aller Könige und Herr aller Herrn, gieb, daß Dich meine Seele mit Klagen umfange in Deiner Niedrigkeit, damit sie von Dir mit Freuden empfangen werde in Deiner ewigen Herrlichkeit!

Heinrich von Suso – Lob Gottes

O Gott, wer giebt, daß sich mein Herz ganz in Deinem Lobe sättige! O könnte ich Dich doch mit alle dem Saitenspiel loben, das je erklungen ist, könnte ich doch alles Land und Gras zu deinem Preise vor Dir in Deinem himmlischen Hose aufsprießen lassen! Ach, lieber Herr, bin ich gleich Deines Lobes nicht würdig, so begehrt doch meine Seele Dich zu loben, wie der Himmel, wann er in herrlichster Schönheit mit der Sonne Glanz und mit der lichten Sterne unzähliger Menge niederleuchtet; wie die schöne Haide, wann sie von Frühlingsblumen glänzet und wie alle die süßen Gedanken, die ein reines, liebendes Herz beim Hinausblick in die Heiterkeit der Natur je empfunden hat. Herr, wenn ich an Dein hohes Lob gedenke, so möchte mir mein Herz zerfließen; es vergehen mir die Gedanken, es gebricht mir das Wort. Blicke ich hin auf Deine lebendigen Bilder und wunderbaren Kreaturen, so sprechen sie zu meinem Herzen: Siehe, wie recht liebenswürdig der ist, von dem alle Schönheit gekommen ist! Ich durchgehe Himmel und Erde, die Welt und den Abgrund, Wald und Haide, Berg und Thal: Alles ruft in meine Ohren einen vollen Ton Deines grundlosen Lobes. Darauf werde ich stumm und wortlos und merke: wer Dich wähnt nach Würdigkeit zu loben, der jaget dem Winde nach und will den Schatten ergreifen.