Sören Aabye Kierkegaard – Liebe

Herr Jesus Christus! Du, der Du gewiß nicht auf die Welt kamst, um zu richten, Du warst doch dadurch, daß Du die Liebe warst, die nicht geliebt ward, das Gericht über die Welt. Wir nennen uns Christen, wir sagen, daß wir niemand wissen, zu dem wir gehen könnten, außer zu Dir – ach, zu wem sollen wir dann hingehen, wenn es, just durch Deine Liebe, auch für uns zum Gericht wird, daß wir wenig lieben? Zu wem, o Trostlosigkeit, wenn doch nicht zu Dir; zu wem, o Verzweiflung, wenn Du nicht doch erbarmend Dich unser annehmen wolltest, uns vergebend unsere große Sünde gegen Dich und gegen die Liebe, uns, die wir viel sündigten dadurch, daß wir wenig lieben!

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Herr Jesus Christus! Die Vögel hatten Nester, die Füchse hatten Gruben, und Du hattest nicht, wo Du Dein Haupt hinlegen konntest, obdachlos warst Du in der Welt – selber doch die Deckung, die einzige, wo der Sünder hinfliehen konnte. Oh, und so bist Du ja noch am heutigen Tage die Deckung; wenn der Sünder flieht zu Dir, deckt er sich bei Dir, ist gedeckt in Dir: da ist er ewig wohl verwahrt, da deckt „die Liebe“ der Sünden Menge.

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Herr Jesus Christus, damit wir recht Dich um Falles bitten können, bitten wir Dich zuerst um eines: hilf uns, daß wir Dich lieben, vermehre die Liebe, entstamme sie, läutere sie. O, diese Bitte wirst Du erhören, Du, der Du ja nicht, grausam, die Liebe so bist, daß du nur ihr Gegenstand bist, gleichgültig, ob einer Dich liebt oder nicht; Du, der Du ja nicht, im Zorn, die Liebe so bist, daß Du nur der Richter bist, eifernd, wer Dich liebt und wer nicht. Nein, so bist Du nicht, so flößtest Du auch nur Furcht und Angst ein, so wäre es furchtbar, „zu Dir zu kommen“, furchtbar, „in Dir zu bleiben“, so wärest Du ja nicht selbst die vollkommene Liebe, welche die Furcht austreibt. Nein, erbarmend, oder liebevoll, oder in Liebe bist Du die Liebe so, daß Du selber die Liebe erzeugst, die Dich liebt, sie empor liebst, daß sie Dich hoch liebe.