Gerson – Leid der Seele

Ach, wie ist durch die List des bösen Feindes meine arme Seele so verloren gegangen und erschlagen worden. Wie ein Schlächter an einem grünen Reise oder schwachen Halme ein Lamm zum Tode führt, das, ohne zu wissen, wohin es geht, lustig und munter ihm nachspringt; also hat er meine thörichte Seele ins Verderben geführt. Durch die flüchtige und kurze Weltlust lockte er sie an sich, band sie, blendete ihre Augen, und verwundete sie darauf tödtlich durch Lasterstiche aller Art. Dann legte er auf sie jenen schweren und großen Stein der bösen Gewohnheit und begrub sie zuletzt in dem kalten Grabe der Verstockung und Herzenshärtigkeit. Da moderte und verwesete sie, ein Greuel vor Gott und allen Heiligen. Ach, theuerster Herr Jesu, Seelenarzt, Quell aller Liebe; wenn dich menschliches Elend je gerührt hat, so siehe doch jetzt auf sie hin, die nun erwacht, ihren Jammer und ihre Bloße erkennt und sich vor Schaam nicht zu Dir aufzublicken getraut. Barmherziger Herr, nach Dir streckt sie Arme und Hände aus, ziehe sie heraus aus dem Schlamme des Verderbens. Gieb ihr den Stab des Glaubens, schmücke sie mit dem Kleide der Liebe, reiche ihr die Leiter der Hoffnung.

Gerson – Sehnsucht

O Herr, da Du mir weltliche Freude und Lust entziehest, und da ich ohne Trost nicht leben kann, so bringe mir doch jenen himmlischen Trost, auf daß ich Leid und Schmerz geduldig ertragen möge. Laß mich jene Süßigkeit kosten, welche Du denen verborgen hast, die Dich lieb haben. Stephanus empfand sie, als er gesteinigt ward; Agatha, als sie zu ihren Banden wie zu einer Hochzeit eilte, die Apostel, da sie sich der Schläge freuten, Paulus, da er sprach, er rühme sich am liebsten seiner Schwachheit. O was will ich noch sagen? Warum sollte ich irdische Lust noch suchen? Genug, daß Du mein versöhnter Vater bist, o Herr; genug, wenn sich Friede und Gerechtigkeit unter den Leiden dieser Zeit in meiner Seele küssen.

Gerson – Gottes Wille

Allmächtiger Gott, Dein Wille geschehe wie im Himmel, also auch auf Erden. Dein Wille ist es, laß ich schwacher und armer Mensch auf dem Wege Deiner Gebote zu Dir wandeln soll. Aber wie mag das geschehen, wenn Du mich nicht regierest und leitest? Ach, lieber Vater, führe mich selber zu Dir; überlaß mich nicht meinem Rache, überlaß mich nicht meinem Willen. Ziehe mich zu Dir, wie Du willst, sei es durch Unglück oder Glück, durch Engel oder Menschen, durch das Gefühl Deiner süßen Gnade oder Deines gewaltigen Armes. Nun, Herr, ich hoffe zu Dir, Du wirst mich nicht umkommen, Du wirst Deinen Willen in mir und an mir geschehen lassen!

Gerson – Trost

O Herr, wie ist mir jetzt durch Deinen Trost so wohl und so lieblich, mährend mich kurz zuvor noch so entsetzlicher Heißhunger quälte! Meine Ohren gingen unter in dieser Welt Thorheit, meine Zunge brannte von verkehrter Rede, meine Augen zerrannen in eitlen Blicken. Wie plötzlich ist nun die böse Sucht gedämpft durch den Geschmack Deines süßen Himmelsbrodtes, welches Du mir geschenkt hast. Gieb mir doch allewege solches Brod, daß mich die giftige und tödtliche Speise dieser Welt beständig anwidere. Ach bliebe Deine Gnade, o Herr, länger bei mir, wie glücklich, wie selig würde ich sein!

Gerson – Vergebung

O Herr Jesu Christe, Quell aller Liebe und Gnade; wie der Hirsch nach frischem Wasser dürstet, so verlange ich nach Deiner Hülfe. Aus der Tiefe rufe ich zu Dir, tief aus des Herzens Grunde, denn Lippen und Zunge vermögen meinen Schmerz nicht zu sagen. Siehe, tiefe Fluchen rauschen über mich dahin; Schaaren von Missethaten stehen vor meinen Augen. O schrecklicher Abgrund, o gefährliche Tiefe! Herr, wenn Du Sünden zurechnen willst, wer wird vor Dir bestehen? Aber ich fliehe zu Dir, weil ich weiß, daß bei Dir viel Erlösung ist. Am Kreuze hast Du für mich gelitten und Dein heiliges Blut vergossen, das da hinreicht, die ganze Welt zu versöhnen. Um deßwillen bitte ich Dich, vergieb mir meine Sünde, rette mich vom Verderben und laß mich Ruhe finden unter dem Schatten Deiner Flügel.

Gerson – Bitte um Erbarmen

O Jesu Christe, du Richter der Welt, ich unwürdiger Sünder rufe mit Zittern und Beben zu Dir: Strafe mich nicht in Deinem Zorne und züchtige mich nicht in Deinem Grimme. Ich bin tief zerrissen, meine Kraft ist sehr gebrochen; erbarme Dich meiner und bekehre mich zu Dir. O es ist eine drückende Last, durch die Finsterniß irdischer Begierden von der Reinheit und Klarheit Deines himmlischen Lichtes immerdar verdrängt zu werden. Komm, o Herr, und befreie meine Seele, rotte die Dornen aus, von welchen sie zerstochen wird, laß Thränenströme aus Herz und Augen hervorbrechen. Siehe, meine Sünden haben mich des ewigen Todes schuldig gemacht, aber Deine Barmherzigkeit kann mich noch retten. So verscheuche denn die Nacht der Laster und laß aufgehen über mir den hellen Tagesschein Deiner Gnade und Liebe. O Heil mir, daß ich hoffen darf, daß Du meine Sünden vergeben und meine Missethaten bedeckt hast.