Thomas von Kempen – Sehnsucht nach Gott

O mein theuerster Herr Jesus Christus, wer giebt mir Schwingen wahrer Freiheit, daß ich auffliegen und in Dir Ruhe finden kann? Wann werde ich doch voll empfinden, wie freundlich Du bist, mein Gott? Wann werde ich mich ganz in Dir sammeln und vor Liebe zu Dir nichts mehr von mir fühlen? Ach, viel Elend stoßt mir in diesem Jammerthale zu, das mich oft verwirrt, trübt und umwölkt; das mich oft hindert und zerstreut, fortreißt und verstrickt, und nicht frei zu Deinen Liebesarmen kommen läßt, die immerdar den seligen Geistern offen stehen. Laß Dich mein Seufzen und die vielfache Qual meiner Verlassenheit auf Erden rühren, Du Glanz der väterlichen Herrlichkeit, Trost der pilgernden Seele. Vor Dir ist mein Mund, auch wenn ich nicht rede, und auch mein Schweigen spricht zu Dir. Wie lange zögert mein Herr, zu mir zu kommen? Ach, daß er doch zu mir Aermsten käme und mich fröhlich machte; daß er doch seine Hand ausstreckte und mich Elenden aller Bedrängniß entrisse! Komm, komm; ohne dich kann ich keinen heitern Tag, keine heitere Stunde finden. Mögen Andere suchen statt Deiner, was sie wollen; mir gefällt nichts Anderes und soll Nichts gefallen, als Du, mein Gott, meine Hoffnung, mein ewiges Heil. Ich werde nicht schweigen, nicht zu bitten aufhören, bis Deine Gnade mir wieder leuchtet, bis Du innerlich zu mir sprichst: Siehe, da bin ich, bei Dir bin ich, weil Du mich gerufen hast!