Anselm von Canterbury

Wehe mir, o Herr! wehe meiner Seele! Du mein Tröster bist geschieden und hast nicht Lebewohl gesagt. Da Du Deinen Weg antratest, segnetest Du die Deinen, aber ich bin nicht dabei gewesen. Die Hände ausbreitend, wurdest Du von der Wolke in den Himmel aufgenommen, aber ich habe es nicht gesehen. Die Engel kündigten Deine Wiederkunft an, aber ich habe es nicht gehört. Was soll ich sagen? Was soll ich thun? Wo soll ich hingehen? Wo soll ich ihn suchen? Wann werde ich ihn finden? Wer wird dem Geliebten sagen, wie sehr ich vor Liebe nach ihm schmachte? Verschwunden ist die Freude meines Herzens, verwandelt in Trauer meine Fröhlichkeit. Meine Seele will sich durch Nichts trösten lassen, als von Dir, o Herr, meine Wonne. Was giebt es für mich im Himmel und auf Erden außer Dir? Dich will ich, auf Dich hoffe ich, Dich suche ich, zu Dir hat mein Herz gesprochen: Mein Antlitz hat Dich gesucht, Dein Antlitz will ich suchen. O gütigster Freund der Menschen, Dir ist der Arme überlassen, Du wirst dem Verwaisten ein Helfer sein. Blicke herab auf die Thränen meiner Verlassenheit, die ich Dir darbringe, bis Du wiederkehrest. O mein Herr, erscheine mir, und ich werde getröstet sein, zeige Deine Gegenwart, und meine Sehnsucht wird gestillt sein, enthülle Deine Herrlichkeit, und meine Freude wird vollkommen sein. Es dürstet nach Dir meine Seele und mein Fleisch. Es dürstet meine Seele nach Gott, der lebendigen Quelle; wann werde ich kommen und vor dem Angesichte des Herrn erscheinen? Wann wirst Du kommen, mein Tröster? O wenn ich meine Freude sehen werde, nach der mich verlangt! O wenn ich werde satt werden, wenn mein Heil erscheint, nach dem ich hungere! O wenn ich werde berauscht werden von der Fülle des Hauses, wonach ich dürste! Thränen sollen, o Herr, mein Brod Tag und Nacht sein, bis zu mir gesprochen wird: Siehe, dein Gott! bis meine Seele hort: Siehe, dein Bräutigam! O er wird vielleicht bald kommen, mein Erlöser, weil er gütig ist, er wird nicht zögern, weil er gnädig ist. Ihm sei Preis von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen! —- Denke dir, du sähest ein tiefes, dunkles Thal, das allen Jammer in sich faßte. Darüber führte eine lange, blos einen Fuß breite Brücke. Müßte nun jemand über diese schmale, hohe und gefährliche Brücke gehen, dem die Augen verschlossen, daß er seine Tritte nicht zu sehen vermöchte, dem die Hände gebunden wären, daß er keinen Stab zum Fühlen gebrauchen könnte, würde der wohl noch lachen und scherzen? Würde der nicht vielmehr vor Furcht und Schrecken erzittern und erbeben? Denke dir, daß noch Ungestalten von Raubvögeln um die Brücke herumschwärmten, geschäftig, den Wanderer in die Tiefe hinabzureißen; denke dir endlich, daß bei jedem seiner Schritte die einzelnen Bretter sofort hinter ihm weggezogen würden! Und nun höre, was das Gleichniß sagen will. Unter dem tiefen und dunkeln Thal ist die Hölle zu verstehen. Alles, was schmeichelt, findet man nicht da, und alles, was schreckt, peinigt, ängstet, findet man da. Die gefahrvolle Brücke ist das gegenwärtige Leben; wer es übel benutzt, sinkt zur Hölle hinab. Die Bretter, welche hinter dem Wanderer weggezogen werden, sind die nie wiederkehrenden Tage seines Lebens, deren beständige Abnahme ihn immer mit Eil zum Ende hindrängt. Der Vogelschwarm ist die Schaar böser Geister. Wir selbst sind die Wanderer, blind von Thorheit und mit Untüchtigkeit zur Tugend wie mit einer schweren Kette gebunden. Nun bedenke, ob wir nicht in solcher Gefahr zum Schöpfer um Hilfe schreien müssen.