Anselm von Canterbury – Sehnsucht

O Herr, nach Dir dürste ich, nach Dir verlangt mich; und gleichwie ein verwaistes Kindlein, dem der theuere Vater genommen ist, das liebe Bild desselben weinend und seufzend beständig im Herzen behält, so beweine auch ich, nicht zwar so sehr ich sollte, doch so viel ich vermag, die Kümmernisse meines Pilgerlebens, hoffe allein auf den Trost Deiner Zukunft und sehne mich innig, Dein glorreiches Antlitz zu schauen. Ach, daß ich ihn nicht habe sehen können, den Herrn der Engel, da er sich Hände und Füße um meinetwillen durchbohren ließ, daß ich seine wunderbare und unaussprechliche Liebe nicht habe bewundernd erblicken können! O Maria, welcher Thränenstrom mag aus deinen züchtigen Augen geflossen sein, als du gewahren mußtest, wie dein Sohn unschuldig gebunden und gegeißelt ward! Wie mag dein frommes Antlitz geweint haben, als eben dieser dein Sohn, dein Gott und Herr, ohne Schuld ans Kreuz geheftet und das Fleisch von deinem Fleisch grausam zerrissen ward! Welche Seufzer mögen deinem Herzen entquollen sein, als du hören mußtest: Weib, siehe, das ist dein Sohn! und der Jünger: Siehe, das ist deine Mutter! Wäre ich doch so glücklich gewesen, und hätte mit Joseph meinen Herrn vom Kreuze abgenommen, ihn mit Specereien gesalbt und ins Grab gelegt, um dem hohen Leichnam noch einen Dienst zu erzeigen. Wäre ich doch nachmals unter den heiligen Frauen gestanden, wäre mit ihnen erschrocken bei der lichtvollen Erscheinung der Engel und hätte ich mit gehört die Botschaft des Trostes, die so gehoffte, so ersehnte Botschaft! Hätte ich doch aus dem Munde des Engels vernommen das Wort: Fürchtet euch nicht, ihr suchet Jesum von Nazareth, den Gekreuzigten, er ist auferstanden und nicht hier! O wunderbarer Herr, wann wirst du mich trösten und meinen Schmerz lindern? Denn mein Schmerz verläßt mich nicht, so lange ich in der Fremde walle, fern von Dir, meinem Herrn.